Heike Walter

mind scan – Rede von Dr. Reiner Niehoff

zur Eröffnung der Ausstellung Retroperspektive, Galerie kx, Hamburg

Kleine Anleitung zur Erzeugung von hrönirs.

Zur Retroperspektive von Heike Walter

Das sind sehr seltsame und vor allem sehr unterschiedliche ästhetische Gebilde, die Heike Walter hier ausgestellt hat und die Sie hier sehen, hören, lesen und berühren können. Augenfällig sind zunächst am Eingang die kleinen Graphiken, die wie Jahresringe von Bäumen anmuten, dann die großflächigen Acrylbilder aus kleinen Quadraten, die scharfkantig-abstrakten farbigen Ölgemälde und die mit den lustigen runden Blasen an den Wänden; weiter überrascht mitten im Raum ein milchiges Möbel, so monolithisch wie wohnlich, tiefer gestaffelt und gesockelt folgen zwei dreidimensionale Modelle, pappig und gezackt; hinter der Säule verbirgt sich ein Musikautomat, von dem monochrome Tonreihen zu vernehmen sind, davor ein Televisionsgerät, das laufend flächige Figuren vom Videoband abspielt. Schwingend auf Plexiglas wie Vögel im Flug finden sich außerdem offene Bücher und in den Büchern sind seltsame Raster zu entdecken; an der Seitenwand hängen quadratische Bilder mit nichts als endlosen Zahlenkolonnen. Bilder also, Objekte und Möbel, Töne und gebundene Blätter in buntem Verein. Kaum wird man auf die Idee kommen, daß all das miteinander in strenger Beziehung steht. Und doch ist es so: diese höchst heterogenen ästhetischen Gebilde sind Effekte einer vergleichsweise simplen Grundoperation, die auf Zahlen beruht und mit Malerei wenig zu tun hat. Wie kommt dieses alchymistische Wunder zustande?

Am Anfang steht, durch die offenen Bücher dokumentiert, eine Art Katalog von genau 40 Fragen, die es täglich zu beantworten gilt und die in einer Werteskala von eins bis zwölf benotet sein wollen. Und zwar so: Zunächst müssen Sie festhalten, 1. wann Sie des morgens aus unruhigen Träumen erwacht und aufgestanden, und dann 2., wann Sie nächstens ins traumwarme Bett zurückgestiegen sind. Beziffern Sie die Urzeit am oder pm, in jedem Fall mit einer Zahl zwischen 1 und 12. So schaffen sie den Rahmen Ihrer Tagesaktivitäten. Nun notieren sie den Zeitaufwand Ihrer täglichen Verrichtungen in Stunden, und zwar verteilt auf: Ihre Tätigkeit 3.am Arbeitsplatz, 4. bei der Hausarbeit, 5. beim Einkaufen, 6. beim Lesen, 7. beim Fernsehen, 8. beim Ausgehen und 9. bei Ihrer Traumarbeit (über zwölf Stunden hinaus zählt nicht). Anschließend beobachten und beurteilen Sie Ihr affektives Gemütsleben, Ihre Nahrungsaufnahme, Ihren emotionalen Austausch mit Ihrer Umwelt und Ihr Verhältnis zu den sieben Todsünden. Konkreter: Wie schneiden in Ihrem privaten Duodezfürstentum, das Sie sind, folgende 31 Faktoren ab: Erlebnisbereitschaft, Kooperation, Durchsetzungsvermögen, Diplomatie, Disziplin, Hemmungen, Angst, Frustration, Erschöpfung, Gefühlsverwaltung, Unruhe, Kopfgefühl (bitte differenzieren Sie nach morgens und abends), Empfindlichkeit, Interesse, Balance, Geduld, Näheverträglichkeit, Amusement, Zweifel, Aufnahmefähigkeit, Kommunikation, Hochmut, Geiz, Wollust, Neid, Völlerei, Zorn, Trägheit, Körpergefühl des morgens und Körpergefühl des abends. Beurteilen Sie diese Kategorien bitte gemäß der Intensität Ihres Erlebens ebenfalls zwischen 1 und 12 aufsteigend. Haben Sie das retrospektiv sorgfältig hinter sich gebracht, liegt vor Ihnen eine stattliche Tabelle mit vierzig Zahlenwerten. Nun müssen Sie diese kleine Operation nur noch fünf Jahre lang durchhalten, feinst in Tabellen eintragen, und eine bedeutende Strecke Ihres Lebens liegt abgeheftet vor Ihnen.

Schließen Sie nun folgende Operation an: tragen Sie bitte in ein Diagramm, das nach rechts alle vierzig Kategorien enthält und nach oben die zwölf Zahlen Ihres Bewertungskanons, die jeweiligen Werte eines Tages zwischen eins und zwölf als Punkt ein und markieren Sie die Trennlinie zwischen Punkt sechs und Punkt sieben – also die Mittellinie der Werteskala – als Achse. Verbinden Sie anschließend die Punkte oberhalb der Achse und die Punkte unterhalb der Achse miteinander – so, wie Sie als Kind einmal Zahlen mit Strichen verbanden, um nachher das überraschende Bild etwa eines Clowns zu erhalten – und Sie werden eine ungewöhnliche Form vorfinden. Diese Form oder besser: diese Fläche ist das Bild Ihrer Tagesform. Ihr affektives, intersubjektives und religiöses Verhalten, also Ihr Verhalten zu sich, zur Welt und zum dunklen Bereich Ihrer Sünden und Verfehlungen im Spiegel Ihrer persönlichen Befindsamkeit hat nun ein Äußeres gewonnen: Sie können sehen, was Sie an diesem Tage waren. Ihr inneres Reich war eine erstaunliche Graphik. Sie sind überhauptjeden Tag eine erstaunliche Graphik. Und Sie werden es bleiben, bis Sie eines fernen Morgens nicht wieder aus unruhigen Träumen erwachen und abends nimmermehr ins traumwarme Bett zurücksteigen. Dann herrscht die Null. Dann rechnet ein anderer mit Ihren Tabellen ab. Vermutlich wird der, der doch alles weiß, ein besonderes Interesse an Ihren Eintragungen in Sachen Hochmut, Geiz, Wollust, Neid, Völlerei, Zorn und Trägheit bekunden. Seien Sie also beim Eintragen dieser speziellen Kategorien bitte recht vorsichtig. Nun haben Sie also eine Graphik Ihrer Tagesform. Diese Graphik ist ein reines ästhetisches Objekt ersten Grades: ein kryptisches Gebilde, weder organisch noch wirklich abstrakt, das Sie aber nicht lesen noch sonst irgend pragmatisch verwerten können; auch Handlungsnormen lassen sich daraus nicht bestimmen oder Lösungsmöglichkeiten für die Probleme Ihres In-der-Welt-Seins entfalten. Das einzige, was Sie damit tun können, ist: aus der Grundoperationen weitere ästhetische Objekte weiterer Grade abzuleiten. Denn die Zahl, auf der hier alles beruht, ist ein vollkommen leeres und deshalb ideales Äquivalent. Sie erlaubt vieles und verbietet nichts. Sie müssen nur ein System finden, das ebenfalls aus zwölf Elementen besteht und eine Zuordnung Ihrer Werte zu diesem anderen System gestattet. Eine solche einfache Transformation etwa ermöglicht das temperierte System von zwölf Tönen, wie es seit Bach üblich ist. Sie parallelisieren ihre Zahlenreihe eines Tages mit den entsprechenden zwölf Tönen der aufsteigenden Skala zwischen C und H, und schon können Sie Ihre Tagesform klingen hören. Oder Sie tabellieren alle Werte nur einer Kategorie, etwa Ihrer ‚Völlerei’, durch einen ganzen Monat hindurch, setzen die entsprechenden Töne ein und werden akustisch Ihre Monatsvöllerei vor die Ohren bekommen. Ebenso können sie zwischen Weiß und Schwarz insgesamt 12 Graustufen festlegen und im selben Verfahren über einen Monat hin eine Reihe von unterschiedlich oder gleich graugefärbten kleinen Quadraten Marke „Völlerei“ erhalten. Sie können auch alle 40 Kriterien über 30 Tage hindurch in derlei Graustufenquadrate um- und untereinandersetzen, und Sie erhalten ein aus 1200 kleinen Kästchen bestehendes Monatsportrait Ihre selbst. Oder Sie definieren statt der Grautöne Farben, wiederholen das 1200-Kästchen-Verfahren, und werden eine Art Mondrian Ihrer Monatsform vorfinden, bis eben eines Tages kein Mondrian mehr folgt. Sie sehen: Ihr Leben, solange es denn währt, ist schattig, farbig und klanglich darstellbar. Und das ist schön.

Natürlich könnten Sie auch Ihre Zahlen in eine Excel-Datei eintragen und in Blasendiagramme oder dreidimensionale Gebirge umrechnen und die Hochebenen von einem imaginären Flugzeug aus als zweidimensionale Ebenen darstellen. Und angenommen, Sie würden nun Ihre Werte über ein ganzes Jahr hin sammeln, alle Werte einer Eigenschaft addieren und durch 365 dividieren, so bekämen Sie einen einzelnen Jahresdurchschnittwert einer Kategorie; unternähmen Sie das mit jeder Ihrer Bewertungskriterien, erhielten Sie abermals im Ganzen vierzig Werte, die Sie erneut qua Diagramm in eine Graphik verwandeln könnten; sie sähen Ihre Jahresdurchschnitts-Tagesform. Nähmen Sie nun ein 35 cm hohes Stück Schaumstoff, bezögen – Gott rette den Konjunktiv – diese Form mit milchigem Kunstleder, so wäre es Ihnen vergönnt, auf Ihrer Jahresform etwa anno 2003 gemütlich Platz zu nehmen. Sie säßen oder ruhten oder schliefen gemächlich auf Ihrem Innenleben, während ein Musikgerät Ihnen Ihre Völlerei vom letzten Monat kundtäte. Das wäre eine schöne Vorstellung, Sie, so gemächlich auf sich selbst ruhend. Es träte dergestalt, zu Ihrer grundsätzlichen Verfaßtheit im dreidimensionalen Raum und in der abrollenden Zeit eine, wie Norbert Elias sagt, fünfte Dimension des Erlebens hinzu, in Form gepolstert oder quadriert oder in einen Kubus gezackt oder als Klang realisiert. Daß Ihnen das möglich ist, verdanken Sie Heike Walter, die es Ihnen an sich selbst vorgespielt und durchexzerziert hat. Sie erhielten, wie Sie hier sehen und hören und be-sitzen können, greif- hör- und sichtbare polymorphe Gestalten Ihres Innenlebens. Das ist ordentlich vermessen und überhaupt ziemlich vermessen.

Drei kleine Gedanken möchte ich an diesen Aufnahmebefund anhängen. Der erste betrifft das Verfahren und ergibt sich aus der nüchternen Vorlagerung des Tabellen-Konzeptes vor das Kunstwerk. Denn die strenge Vorlage der Tabelle hat eine für das Bild vom schaffenden Genius oder der schaffenden Genia enttäuschende Folge. Alles, was auf den ersten Blick als künstlerische Inspiration erscheint, als individuelle Farbgebung, als singuläre Formgestaltung, als sensitive Reihenbildung oder gar als originelles Design, ist durch und durch bestimmt vom Raster 40 zu 12, projiziert auf die Achse der Zeit eines Tages, eines Monates oder eines Jahres. Das heißt: Heike Walter formt nicht, gestaltet nicht, komponiert nicht und zeichnet auch nicht; sie verzeichnet.

Dieser kleine tric, diese Verwandlung der Zeichnung durch das kleine Präfix „ver“ wiederum hat zwei bedeutsame Folgen. Zum einen hebelt diese minimale Operation die hartnäckige Vorstellung aus, eine Zeichnung müsse seinen Gegenstand irgend symbolisch überhöhen, um dessen Wesen freizulegen. Denn symbolisch ist hier rein gar nichts. Nichts ist Abbild, alles ist Übertragung, Transformation, Übersetzung. Der seit Platon uns hinterlassene Graben, der sich in der klassischen Metaphysik zwischen Erscheinung und Wesen auftut und den die Kunst symbolisch zu schließen versuchte, ist definitiv zugeschüttet. Denn welche Instanz wollte eine irgend ideale Tagesform ausgeben? Wer wollte zwischen Ihrer Tagesform und meiner eine Beziehung herstellen? Wer wollte hier mit der alten Gegenüberstellung von „gelungen“ oder „mißlungen“ operieren? Alle Graphen sind gleich und zugleich völlig unterschiedlich. Die Zahl, die Identitäten herzustellen scheint, verwischt sie. – Zum anderen verkehrt der kleine Zahlentric ein zweites Phantasma der Kunstgeschichte: nämlich den Wunsch, das ästhetische Objekt möge lebendig werden. Alle traditionelle Kunst bis hin zum Kino ist offen oder geheim von dem Phantasma getrieben, eines Tages werde das Bild das Laufen erlernen; seit je ist die Kunst beherrscht vom Mythos des Pygmalion. Die Arbeiten, die Sie hier sehen, funktionieren umgekehrt: nicht das Bild wird lebendig und entfleucht, sondern das Leben erstarrt und wird Bild Klang Möbel Block. Direkter läßt sich Lebenskunst nicht artikulieren. Wie lange Sie schlafen, wie lange Sie arbeiten, was Sie fühlen und welche Vergehen Sie auf sich laden: all das wird, der Zahl seis gedankt, Kunst. Ihr Gefühl ist ein Ästheticum direkten Grades und ganz ohne Hintersinn. Soweit meine erste kleine Anmerkung.

Meine zweite Anmerkung betrifft die Verzeichnung, insofern sie das Innenleben des Verzeichners verzeichnet, also das Subjekt, das sich da zur Darstellung bringt. Dieser Wunsch, das eigene innere Reich auszumessen, hat durchaus Tradition; sein Terrain ist seit der Konstituierung neuzeitlicher Subjektivität das Tagebuch. Im Tagebuch, so war es einmal Wunsch, entwirft sich das Subjekt, indem es auf sich selbst aufmerksam wird und seine affektive Eigenwelt gegen fortschreitende Außenkontrolle zu behaupten und zu schützen vermag. Es entdeckt sich als Subjekt, indem es einerseits ein angeblich unverstelltes und seit Rousseau als „natürlich“ vindiziertes Privatuniversum auszumessen sich anschickt, und andererseits, indem es sich in der Zeit als zwar veränderliches und bewegtes, gleichwohl sich erinnerndes und vorgreifendes, also als zeitlich konstituiertes Ich festhält. Das Tagebuch ist dessen genaue Form: eine singuläre Geschichte von Erlebnissen und Erfahrungen wird in Schrift festgehalten und durch das Tagesdatum in der Zeit verortet. Das intime Selbstgespräch bis hin zu Alexander Kluges ‚Chronik der Gefühle’ soll bewahren, was politisch nicht vollständig repräsentierbar, institutionell nicht vollständig ortbar und ökonomisch nicht vollständig verwertbar ist.

In den Arbeiten von Heike Walter wird diese Privatgeschichte der Moderne fast möchte man sagen: ironisch fortgeschrieben und exzessiv überboten. Das intime Selbstgespräch ist kristallin vorhanden: jeden Tag wird das Datum auf die Tabelle gestempelt wie einmal die Handschrift die Zeit festhielt. Täglich wird die Chronik der Gefühle gemustert und mit aller Akribie notiert. Und auszuwerten ist hier auch nichts; die subjektive Geschichte der Empfindsamkeit sperrt sich jeder ökonomischen, psychologischen oder institutionellen Vereinnahmung. Nur daß ihre Methode: die systematische, quantifizierende Form der Verzeichnung kein irgend ursprüngliches oder natürliches oder reservatenhaft-verkammertes Geheimsubjekt produziert, sondern ein gänzlich morphes oder morphotisches. Denn indem ich mich verzeichne, verwandele ich das Unbestimmte in das Bestimmte, das Diffuse in das Feste, das Amorphe in die Tabelle. Damit verändere ich, was ich festhalten möchte; das Bild, das ich von mir mache, ist in gewisser Weise immer schon in Bewegung und verkrümmt. Denn nichts erlaubt mir zu behaupten, daß die tatsächlich realisierte Tagessform so aussieht wie die, die sich in mir abgespielt hätte, wenn ich sie nicht aufgezeichnet hätte; oder daß sie, fünf Minuten später erstellt, nicht deutlich anders aussähe. Meine Aufmerksamkeit produziert und verändert mithin das Bild, das sie erst entdecken möchte.

Das wird hier höchst anschaulich: die präzise Erfassung der Daten und Ihre Übertragung qua Diagramm erbringt weder ein wahres und noch ein falsches Bild, sondern erzeugt eine Art unendliches Rauschen der Graphen, durchgespielt in immer neuen Systemen (in der Graphik, im Ölbild, in der Partitur und im Material; im Quadrat, in der Blase, im Ton, in der Projektion und im Stoff). Diese Graphen sind unlesbar, aber fortpflanzungsfähig. Das umsomehr, als ja jede Ursache und jede Folge der Wertermittlung ausgespart ist. Warum Sie oder ich da „Angst“ empfunden, „Zweifel“ gehabt oder in der „Gefühlsverwaltung“ nachlässig oder sorgsam gewesen sind, auf Grund welcher persönlichen oder historischen Erfahrung ich an jenem Tage der „Völlerei“ zuneigte oder „Geiz“ entwickelte, bleibt verschwiegen. Der innere Raum tönt, aber er tönt leer; zwar verwandelt sich der Graph in die Graphik, aber diese Graphik sagt nichts aus. Bezeichnenderweise ist das zentrale Mittel des klassischen Tagebuchs ausgespart: die Sprache nämlich. Es scheint fast, als werde hier der Sprache angelastet, gerade jene faszinierenden ästhetischen Formen und Gebilde vorlaut zu blockieren, die dann entstehen können, wenn sie erst einmal abgeschaltet ist. Sprache ist der Trug, der Selbstfindung behauptet.

So prallt ein leeres Inneres auf ein unbekanntes Äußeres; daraus entspringt ein ästhetisches Objekt. Ein Objekt, das keine Sprünge und Reibungen, keine Spuren oder Schraffuren kennt. Ein Objekt, das im letzten nicht von der Tiefe, sondern von der Oberfläche beherrscht ist. Heißt: Das ästhetische Subjekt findet sich nicht in der Selbsterschreibung wie im klassischen Tagebuch, sondern erzeugt sich im Wechsel seiner Übertragungen. Ich bringe mich zur Darstellung nicht durch diarische Selbstbekundung, sondern durch temporären Systemtausch.

Damit komme ich zur dritten und letzten kleinen Anmerkung; sie betrifft das Denken, das hier waltet. Eine berühmte und vertrackte Erzählung von Borges, an die ich mich – ich weiß nicht warum, vermutlich fälschlicher Weise – angesichts der ästhetischen Gebilde Heike Walters erinnert fühle und die nachzuerzählen ganz unmöglich ist, berichtet von einem Phantasiereich namens Tlön, das von Geheimgesellschaftlern ausgeheckt ward. Grundlegendste Auffälligkeit: in Tlön denkt man gänzlich anders, als wir es gewohnt sind. Das Tlönsche Denken beruht nämlich auf der unumstößlichen Prämisse, daß nichts in der Welt räumliche, sondern ausschließlich zeitliche Existenz besitzt. Das meint: Gegenstände oder Umstände treten nicht räumlich in Beziehung, sondern erscheinen als von einander gänzlich unabhängige Vorgänge in der Zeit. Ein Rauchgewölk am Himmel etwa kann wahrgenommen werden und eine brennende Steppe und die Glut einer Zigarre; aber die Beziehung zwischen der brennenden Zigarre und dem Steppenbrand, den sie ausgelöst hat, kann nicht hergestellt werden. Jeder Zustand ist vom anderen vollständig isoliert; Ursache und Wirkung als räumliche Beziehungen sind grundsätzlich ausgeschaltet. Geometrisch formuliert: wahrgenommen werden nicht Punkte, die im Raum miteinander verknüpft sind, sondern nur Oberflächen als einer Art raumloser Zeitlichkeit der Wahrnehmung. Das existiert, existiert mithin nur im wahrnehmenden Bewußtsein; die Psychologie – eine Psychologie jedoch ohne Ursachen- „Die Grundlage der Sehgeometrie ist die Oberfläche, nicht der Punkt. Diese Geometrie kennt keine Parallelen und behauptet, daß der Mensch, der sich fortbewegt, die Formen seiner Umgebung verändere.“ (1) und Wirkungsforschung -, ist folglich alleinige Wissenschaft in Tlön. Anders formuliert: Es existiert kein Subjekt des Denkens, das die Dinge im Raum bestimmt, sondern nur das Denken als Subjekt, das vollkommen raumlos agiert. Das Denken selbst schafft überhaupt erst die Objekte und verändert zugleich ihre Geometrie, indem es sie schafft. Die Welt ist Produkt einer in der Zeit beweglichen, die Objekte überhaupt erst schaffenden und zugleich verkrümmenden Einbildungskraft; genauer: sie ist Produkt einer alles hervorbringenden und zugleich verändernden totalen Suggestion. Das hat nun – und darauf vor allem kommt es mir an – erstaunliche Folgen für die Dinge selbst: das Denken kann den Gegenstand nicht nur hervorbringen, sondern auch verdoppeln und vervielfältigen. Sucht A einen Bleistift und findet ihn, verschweigt das aber, und sucht und findet B ebenfalls einen Bleistift, so ist der eine Bleistift verdoppelt. Dieses Objekt zweiten Grades ist ein hrönir. Eine solche suggestive Erzeugung von Objekten hat man nun in Tlön systematisch erforscht. Denn von den hrönirs lassen sich selbstverständlich weitere hrönirs ableiten, die sich jedoch nicht zufällig und chaotisch, sondern nach gewissen Regeln fortsetzen: der Gegenstand zweiten Grades etwa, so Borges, ist zwar anmutlos, dafür um ein weniges größer als das Ausgangshrön. Hrönirs fünften Grades sind nahezu einförmig, „die des neunten vermischen sich mit denen zweiten Grades“ (2); die elfte Ableitung zeigt eine außerordentliche Reinheit der Linie, ab Nummer Zwölf (also Objekt Nr.13) beginnt der Verfall.

Sie ahnen vielleicht, was ich mit diesem Exkurs sagen will: die Arbeiten, die wir hier vor uns sehen, weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gedankenspiel von Borges auf: sie sind ausschließlich Produkte der Zeit, nicht des Raums; sie beruhen ausschließlich auf der verabsolutierten subjektiven Wahrnehmung; sie löschen Ursache und Wirkung aus; sie verwandeln Punkte – also räumliche Bezüge – in Oberflächen. Diese Oberflächen sind in Bewegung und verändern ihren Gegenstand von Zeit zu Zeit. Heißt: Die Objekte, die Sie hier sehen und hören und berühren können, sind zweckfreie hrönirs, und zwar hrönirs in sehr unterschiedlichen Graden und in sehr unterschiedlichen Formen. Der dreizehnte Grad des Verfalls scheint mir allerdings noch nicht erreicht. Deshalb hat es mich auch nicht überrascht – oder hat es mich überrascht? -, daß in der Geschichte von Borges ein verstorbener Freund des Erzählers als Miterfinder Tlöns entlarvt wird. Er heißt Ashe und hat als der Engländer, der er ist, einen besonderen tic. Der Erzähler berichtet: „Eines Nachmittags sprachen wir vom Duodezimalsystem […]. Ashe sagte, er sei eben dabei, irgendwelche Zwölfertabellen in Sechzigertabellen zu übertragen.“ (3) Und ist es ein Zufall, daß die Tlön-Enzyklopädie genau aus 40 Bänden besteht? Sollte sich hinter Borges’ fiktivem Erfinder ein Pseudonym und sollte sich hinter diesem Pseudonym die Künstlerin verbergen, die uns heute zu Ihrer Ausstellungseröffnung eingeladen hat? Zumindest hoffe ich, daß Heike Walter noch viele weitere hrönirs ableiten wird. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Zur Retroperspektive von Heike Walter

Galerie KX.,1. April 2004 in Hamburg

1 Jorge Luis Borges, Fiktionen (1944). Frankfurt am Main 1992, S.272

2 Borges, Fiktionen. S.29

3 Borges, Fiktionen. S.19